Ein Roboter als Inklusionshelfer : Datum:
Wie steuert man einen Roboterarm, ohne Hände und Füße zu benutzen? Im Projekt MIA haben sich zwei Forscherteams der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen mit dieser Frage befasst und ein Gerät entwickelt, mit dem sich Maschinen komplett über Kopfbewegungen und Blicke steuern lassen. Diese Technik könnte gelähmten Menschen zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe verhelfen und so einen Beitrag zu mehr Inklusion leisten.
Roboter werden immer ausgefeilter, aber in einem Punkt sind sie uns Menschen nach wie vor unterlegen: „Der Mensch hat überragende visuelle Fähigkeiten“, sagt Prof. Dr. Marion Gebhard. „Zum Beispiel erkennen wir problemlos, ob ein Glas voller Wasser ist, und transportieren es entsprechend vorsichtig. Das können Roboter bisher noch nicht.“
Deshalb werden selbst an Maschinenarbeitsplätzen noch immer Menschen gebraucht, die ein Auge auf die Abläufe haben und notfalls eingreifen können. Aber die besten visuellen Fähigkeiten helfen nichts, wenn ein Mensch keine Kontrolle über seine Gliedmaßen hat. Menschen mit Querschnittslähmung zum Beispiel haben nur sehr wenige Möglichkeiten, am primären Arbeitsmarkt teilzuhaben.
Hier setzt das Projekt MIA der Westfälischen Hochschule an: Marion Gebhards Team aus dem Bereich Sensortechnik und Aktorik hat eine Steuerung für einen Roboterarm ausgetüftelt, die sich komplett durch Kopf- und Augenbewegung bedienen lässt. Das Gerät sitzt wie eine Art Brille am Kopf und arbeitet mit kaum sichtbaren Bewegungssensoren, wie sie heute in jedem Handy verbaut sind. „Nicken, Drehen, Rollen – das sind die Freiheitsgrade, mit denen diese Sensoren arbeiten“, erklärt Gebhard.
Ergänzt werden die Bewegungssensoren durch einen Eyetracker, der die Pupillenbewegung verfolgt und dem Gerät weitere Freiheitsgrade verleiht: Pupillen rauf oder runter, Pupillen nach links oder rechts, Augen schließen und der so genannte „Headgaze“, also die Richtung, in die der Kopf ausgerichtet ist.
Ergänzend dazu hat sich das Team um Gebhards Kollegen Prof. Dr. Jens Gerken aus dem Bereich Human Computer Interaction damit beschäftigt, wie die Steuerung des Roboterarms durch visuelle Hinweise und Rückmeldungen vereinfacht werden kann. Für den Menschen ist es zum Beispiel gar nicht so einfach zu erkennen, wann der Roboter genau so positioniert ist, dass er einen Gegenstand auf Anhieb greifen kann. Über eine Augmented-Reality Brille werden dem Benutzer zusätzliche Informationen zur Positionierung im Raum direkt im Sichtfeld angezeigt, die genau dabei helfen und damit die Steuerung einfacher und effizienter machen.
Viele Anwendungsmöglichkeiten für freihändige Roboter-Steuerung
So eine „freihändige“ Steuerung von Maschinen kann natürlich auch für gesunde Menschen von Nutzen sein, zum Beispiel um eine Maschine im Notfall zu stoppen, auch wenn man gerade die Hände nicht frei hat. Im Vorhaben MIA ging es den Forschenden jedoch explizit darum, Menschen mit schweren körperlichen Einschränkungen mehr Teilhabe am Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Deshalb haben sich die beiden Teams der Westfälischen Hochschule mit Büngern-Technik zusammengetan, einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung aus dem westfälischen Bocholt. Dort werden unter anderem so genannte Keilsteller gefertigt: bewegliche Beschläge aus Metall, mit denen zum Beispiel höhenverstellbare Lattenroste ausgestattet sind. Die Keilsteller sorgen dafür, dass das Kopfteil des Lattenrosts in der eingestellten Position bleibt.
„Im Prinzip könnte man diese Keilsteller auch vollautomatisch von einem Roboter montieren lassen“, erklärt Gebhard. „Aber das klappt nur mit sehr viel menschlicher Vorarbeit und geht zudem viel zu langsam.“ Stattdessen wäre ein kombinierter Mensch-Maschine-Arbeitsplatz hier die bessere Wahl. Allerdings bräuchte es dafür eigentlich Menschen ohne Bewegungseinschränkungen, um die Teile zu sortieren und für den Roboter bereit zu legen.
Mensch und Maschine arbeiten präzise zusammen
An dieser Stelle kommt nun das Steuergerät von MIA ins Spiel: Wenn man den Arbeitsplatz mit einem solchen Gerät ausstattet, können auch vom Hals abwärts gelähmte Menschen daran arbeiten. Mit Kopfbewegungen und Blicken lässt sich der Roboterarm präzise steuern, so dass er auch nicht-automatisierte Arbeitsschritte durchführen kann. Der Mensch lenkt ihn mit den Augen- und Kopfbewegungen an die richtige Stelle und erteilt Befehle wie „Zugreifen“ und „Loslassen“ per Kopfnicken, Zwinkern oder Sprachbefehl. „Das lernt man wie das Schalten beim Autofahren“, sagt Gebhard.
Die Nutzerfreundlichkeit des Systems, seine Usability, sollte eigentlich vor Projektabschluss direkt von bewegungseingeschränkten Menschen bei Büngern-Technik erprobt werden. Doch wie fast alle Forschungsprojekte, an denen Probandengruppen beteiligt waren, hatte auch MIA unter der Corona-Pandemie zu leiden: Das Team konnte die neue Technologie zwar in mehreren Workshops bei Büngern vorstellen, aber die geplanten umfangreichen Probeläufe mussten ausfallen. „Die Technik funktioniert, aber die Usability-Studien mit der eigentlichen Zielgruppe fehlen uns natürlich“, so die Projektleiterin. Um das grundlegende Steuerungs- und Visualisierungskonzept zu testen, konnten die Teams aber immerhin umfassende Studien mit Personen ohne körperliche Einschränkungen durchführen und das System so schrittweise optimieren.
Zum Projektende im Frühjahr 2022 standen die beteiligten Partner dann allerdings vor einer Herausforderung, die sie noch mehr überrascht hat als die Pandemie: Die Weiterentwicklung des Gerätes zu einem marktfähigen Produkt erwies sich als extrem schwierig. Gebhard war bei Herstellern von Sportrollstühlen ebenso wie bei Herstellern anderer medizinischer Hilfsmittel. „Wo wir auch hingehen, alle finden unsere Technologie super – aber niemand will sie auf den Markt bringen“, berichtet sie von diesen Gesprächen. „Dabei bräuchten wir an diesem Punkt der Entwicklung unbedingt Unternehmenspartner, die das Gerät in einen Prototyp und dann in ein Produkt überführen. Und die finden wir derzeit einfach nicht.“
Funktionale Sicherheit und hohe Auflagen erschweren die Vermarktung
Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum Beispiel die hohen Sicherheitsauflagen, die gelten, wenn Menschen mit körperlichen Einschränkungen involviert sind – diese können ja nicht im Notfall mit den Händen eingreifen, wenn die Steuerung versagt. Zudem sind die Roboterarme noch sehr teuer und die Zertifikation ist komplex und zeitaufwändig. Werkstätten können sich das in der Regel nicht leisten, und für viele Industrieunternehmen sind die Gewinnspannen nicht groß genug, als dass sich die Anschaffung lohnt.
Marion Gebhard will jedoch noch nicht aufgeben. Sie glaubt fest an die Technik und würde sie am liebsten zur Dienstleistung weiterentwickeln: Nutzer könnten den gesamten Arbeitsplatz mitsamt Roboterarm und Steuerung mieten, sich vom Anbieter einweisen lassen und die Technik dann flexibel einsetzen, wann und wo sie benötigt wird – zum Beispiel, um Mitarbeitende mit körperlichen Einschränkungen für ihr Unternehmen zu gewinnen, aber auch wenn bei den Mitarbeitenden schon beide Hände anderweitig belegt sind.
Aus wissenschaftlicher Sicht war MIA jedenfalls ein voller Erfolg: Neben einem Demonstrator sind auch noch zwei Promotionen in Kooperation mit den Universitäten Bremen und Duisburg-Essen aus dem Projekt entstanden, „eine davon mit summa cum laude und viermal der Bestnote 0,7 – besser geht es nicht“, erzählt die Projektleiterin stolz. Und eine Menge gelernt hat das Team dabei auch noch: „Der Umgang mit den Menschen bei Büngern-Technik war eine echte Bereicherung für uns alle.“