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Besser hören lernen dank Brille : Datum:

Viele Kinder haben Probleme mit dem räumlichen Hören. Das kann dazu führen, dass sie in lauten Klassenzimmern die Worte der Lehrperson kaum oder gar nicht verstehen. Im Projekt VIWER-S wollen die TH Köln und die Jade Hochschule hier Abhilfe schaffen. Dafür entwickelt das Projektteam einerseits ein spezielles Hörtraining mit VR-Brillen und andererseits ein innovatives Mikrofonsystem für den Schulalltag.

„Seid mal leise, das ist jetzt wichtig!“ So oder ähnlich lautet ein häufig ins Klassenzimmer gerufener Satz, wenn sich in der ersten Reihe gerade drei Kinder über eine anstehende Arbeit unterhalten, während hinten schon Bücher und Hefte zugeschlagen werden – die Stunde ist ja eh bald vorbei – und draußen vor den gekippten Fenstern bereits die Parallelklasse über den Pausenhof tobt.

Ein Lehrer sitzt an einem Tisch, auf dem ein Modell von einem menschlichen Ohr steht; um ihn herum Grundschulkinder, die aufzeigen oder zuhören.
Gut zuhören: Das fällt Kindern im Grundschulalter oft schwer. Wenn sie auch noch Probleme mit dem räumlichen Hören haben, verlieren sie im Unterricht schnell den Anschluss. © Adobe Stock / wavebreak3

Bei so viel Unruhe verstehen viele Schülerinnen und Schüler kaum noch ihre Lehrperson. Besonders schwer haben es aber Kinder, die nur eingeschränkt räumlich hören: Sie können Nebengeräusche nicht so gut herunterregeln oder ausblenden. Stattdessen dringt auf sie immer die gesamte Lautstärke im Raum ein.

Wer kein Problem mit dem räumlichen Hören hat, sortiert und filtert unbewusst ständig Umgebungsgeräusche aus. Man kennt das als „Cocktailparty-Effekt“: Der gesunde Gehörsinn verstärkt in einem lauten Durcheinander eine Stimme und unterdrückt andere. So sind Gespräche trotz lauter Geräuschkulisse möglich. Hörprobleme in lauten Umgebungen werden meist älteren Menschen zugeschrieben, aber auch Kinder haben überraschend oft ein Problem mit dieser Filterung.

Die Hälfte der Kinder mit Lernschwächen hat Hörprobleme

„Wir nennen das eine Schwäche der räumlichen auditiven Wahrnehmung. Beinahe jedes zehnte Kind leidet darunter“, sagt Karsten Plotz. Als Pädaudiologe beschäftigt er sich mit dem Hörvermögen von Kindern – und das schon seit mehr als 25 Jahren. Er führt eine Praxis in Oldenburg, die auf dieses Thema spezialisiert ist und wo er beispielsweise Hörscreenings für Neugeborene durchführt oder Hörstörungen bei Kindern behandelt.  

Gleichzeitig lehrt und forscht der 60-Jährige als Professor für HNO-Heilkunde und Pädaudiologie an der Jade Hochschule. Er kennt also die Probleme, die durch ein gestörtes Hörvermögen entstehen können: „Rund die Hälfte aller Kinder mit Lernschwierigkeiten hat Hörprobleme, da gibt es also eine starke Verbindung.“ Könnte man ihre Hörprobleme lösen, würde man diesen Kindern den Schulalltag enorm erleichtern.

VIWER-S verfolgt zwei innovative Ansätze

Deshalb hat Plotz 2019 das Forschungsprojekt VIWER-S gestartet. Gemeinsam mit den Professoren Jörg Bitzer (Jade Hochschule) und Christoph Pörschmann (TH Köln) will er Kindern helfen, die unter medizinisch als „Spatial Processing Disorder“ zusammengefassten Hörproblemen leiden. Das Team von VIWER-S verfolgt dafür zwei Ansätze: zum einen eine technische Hörhilfe fürs Klassenzimmer und zum anderen ein auf  Virtual Reality basierendes System, mit der Kinder ihre räumlichen Wahrnehmungsfähigkeiten verbessern können.

Für den ersten Projektteil ist Jörg Bitzer verantwortlich. Wie Plotz arbeitet er an der Jade Hochschule am Standort Oldenburg, wo er Audiosignalverarbeitung im Studiengang Hörtechnik und Audiologie lehrt. Im Rahmen von VIWER-S entwickelt er gemeinsam mit Studierenden und Promovierenden ein modernes Hörgerät für den Schulalltag. „Das ist ein System, mit dem höreingeschränkte Kinder richtig räumlich hören können“, sagt der 52-Jährige.

Räumliches Hören

Räumliches Hören (auch als binaurales Hören oder Richtungshören bezeichnet) beschreibt die Fähigkeit des Gehörs, die Richtung zu erkennen, aus der ein akustisches Signal kommt. Wenn der Schall nicht exakt von vorne kommt, trifft er zu unterschiedlichen Zeitpunkten auf die Ohren. Die dabei entstehende minimale Differenz nennt man „interaural time difference“. Außerdem unterscheiden sich die beiden Ohrsignale in ihrem Pegel, das ist die „interaural level difference“. Beide Werte zusammen ermöglichen es dem Gehirn, sehr genau den Winkel zu berechnen, aus dem der Schall auf die Ohren trifft. Gleichzeitig können dadurch unterschiedliche Schallquellen voneinander getrennt werden. Das ermöglicht es dem Gehirn, die Aufmerksamkeit auf eine Quelle fokussieren und andere perzeptiv zu unterdrücken.

Zwar gibt es für diesen Zweck schon Hörgeräte auf dem Markt. Sie bestehen meist aus einem Mikrofon, das die Lehrperson um den Hals trägt, und einem Hörgerät oder Kopfhörern für das Kind, die mit dem Mikrofon verbunden sind. Nur: Die Stimme der Lehrperson kommt bei diesen Systemen als Monosignal „mitten im Kopf“ des Kindes an, wie Bitzer das nennt. Das kennt jeder, der handelsübliche Kopfhörer nutzt: Das Gehörte klingt damit, als würde es zwischen den Ohren entstehen. Das Signal transportiert weder Informationen, wo sich die Sprecher im Raum befinden, noch sonstige Einflüsse wie Hall oder Störgeräusche. Das Kindergehör, das ja ohnehin nur eingeschränkt entwickelt ist, wird durch diese Technik weiterhin mit falschen akustischen Informationen „gefüttert“.

Neues System ermöglicht erstmals „gehörrichtiges“ akustisches Signal

„Unser System hat hingegen 15 kleine Mikrofone, wie sie auch in Smartphones verbaut sind. Sie nehmen alle Signale im Raum auf und leiten sie an einen Minicomputer weiter“, sagt Bitzer. Dort verarbeitet eine Software die Informationen, bestimmt die Positionen der Schallquellen im Raum und verstärkt diejenigen, die wichtig sind. „Es sind ja nicht immer nur Lehrpersonen Informationsträger“, erklärt Bitzer, „häufig sind das auch Mitschüler, die gerade eine Frage beantworten.“ Das System leitet die entsprechenden Stimmen dann „gehörrichtig“ an spezielle Kopfhörer. Die können alle Signale aus der Richtung auf die Kinderohren spielen, wo sich ihre Quellen auch tatsächlich befinden.

Die Herausforderung ist, das alles in Echtzeit umzusetzen. Bitzer sagt: „Das System ist komplex, weil wir immer die Kopfbewegung und Blickrichtung des Kindes einberechnen, die herumlaufende Lehrperson und die anderen Kinder orten, alles zueinander in Relation setzen, wichtige Signale isolieren, verbessern und korrekt senden müssen – und das in so kurzer Zeit, dass es keine Verzögerung bei der Lippensynchronität gibt.“ Sonst werde der Klang der Stimmen verändert oder das Kind höre alles als Echo. „Und das will man gar nicht“, sagt Bitzer.

Derzeit erinnert das „Mikrofon-Array“ an einen kleinen Boomerang, der ungefähr 45 Zentimeter misst. Die Mikrofone sind auf den Flügeln angeordnet. „Wir haben den Prototyp selbst entworfen und im 3D-Druck gefertigt“, sagt Bitzer. Zusätzlich zum Boomerang gibt es noch ein weiteres Mikrofon mit Ortung, das die Lehrperson trägt. So weiß das System immer, wann sie spricht und wo sie sich befindet.

Räumliches Hören üben in einer Cartoon-Welt

Christoph Pörschmann hingegen muss im zweiten Projektteil von VIWER-S keine Hardware designen und produzieren. Er nutzt für seine Entwicklung ein etabliertes Consumerprodukt: die Oculus Quest. Für dieses Virtual-Reality-Headset, entwickelt vom Facebook-Mutterkonzern Meta, braucht man weder Konsole noch PC, weil sämtliche Hardware bereits eingebaut ist.

Hörprobleme bei Kindern

Acht bis zehn Prozent aller Kinder haben in der Schuleingangsphase Probleme mit dem Hören. Das führt dazu, dass sie Lerninhalte oft nur mit Verzögerung verstehen und dadurch die Möglichkeit zur Teilhabe verlieren. Oder sie müssen sich sehr anstrengen, im Durcheinander einzelne Stimmen zu verstehen, so dass sie nach kurzer Zeit erschöpft sind und selbst anfangen zu stören. Man vermutet, dass Hörprobleme durch Erkrankungen des Mittelohrs im Kleinkindalter entstehen können. Oft bleibt das lange Zeit unentdeckt. Es kann aber auch sein, dass das räumliches Hörvermögen bei der Einschulung noch nicht vollständig ausgebildet ist. Eine Entwicklung bis in das elfte Lebensjahr ist normal. Eigentlich sollte der Geräuschpegel in Klassenzimmern, vor allem in Grundschulen, deshalb niedrig sein.

Für die Oculus Quest entwickeln Pörschmann und sein Team Szenarien, in denen Kinder ihr Hörvermögen trainieren können oder die es erlauben, überhaupt erst eine Einschränkung des räumlichen Hörens zu diagnostizieren. „Wir haben eine kindgerechte Welt geschaffen, in der wir audiometrische Standardtest in virtueller Umgebung durchführen“, sagt Pörschmann.

Das ist der „Speech in Noise-Test“: Das Kind zieht die VR-Brille auf und befindet sich plötzlich auf einer großen Wiese inmitten einer bunten Cartoon-Welt. An einem nahen Flussufer wachsen farbenfrohe Bäume, vor dem blauen Himmel schweben flauschige Wolken. Das Kind ist nicht allein, ein kleiner freundlicher Roboter steht vor ihm und ruft ihm Sätze wie diesen zu: „Der Junge wirft den Ball.“ Gleichzeitig geben die Kopfhörer ein Rauschen auf die Ohren. Mit jedem weiteren Satz ändert sich die Lautstärke. Zudem wird die Richtung variiert, aus der das Rauschen kommt. Das ist für die VR-Brille kein Problem, sie kann jeden Sound dreidimensional wiedergeben. „So finden wir spielerisch heraus, wann das Kind die Worte noch verstehen und den Lärm herausfiltern kann“, sagt Pörschmann. „Weil wir die Werte bei Menschen mit gesundem Gehör kennen, erkennen wir nach wenigen Minuten, ob ein Problem mit dem räumlichen Hören vorliegt.“

Trainingsszenarien müssen kindgerecht und abwechslungsreich sein

Die virtuellen Welten ermöglichen Pörschmann und seinem Team nicht nur eine Diagnose. Wenn diese positiv ausfällt, können betroffene Kinder darin auch ihr räumliches Hören verbessern. „Mit unserem Training lassen sich Schädigungen des räumlichen Hörens vermindern“, sagt der Professor, der unter anderem auditive virtuelle Umgebungen an der TH Köln lehrt. Geplant ist, dass betroffene Kinder die VR-Brillen mit nach Hause nehmen und drei Monate lang jeden Tag zehn Minuten in den Trainingsszenarien üben. „Wir überlegen derzeit gemeinsam mit Spieledesignern, was wir umsetzen können, um die Kinder lange motiviert zu halten“, sagt der 52-Jährige.

Das Projekt VIWER-S war ursprünglich für vier Jahre angelegt und sollte Ende 2022 abgeschlossen werden. Doch das Coronavirus durchkreuzte den ehrgeizigen Zeitplan. Aufgrund der Pandemie konnten weder die virtuelle Brille noch der Mikrofon-Boomerang mit gehörgeschädigten Kindern getestet werden – das hätte keine Ethikkommission erlaubt. Deshalb haben die Projektverantwortlichen eine Verlängerung bis 2024 beantragt.

„Die Hürden für Studien mit kleinen Kindern sind extrem hoch. Was aber auch total berechtigt ist, immerhin werden unsere Probanden und Probandinnen zwischen sechs und zehn Jahre alt sein“, sagt Pädaudiologe Plotz. Das ganze Projekt deshalb gefährdet wähnt er aber nicht: „Klar, das wird anspruchsvoll. Aber es ist einfach unsere Hausaufgabe für die kommenden beiden Jahre, das möglich zu machen.“