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Digitale Mutmacher : Datum:

Menschen mit sozialen Phobien fürchten sich vor Interaktion mit ihren Mitmenschen. Sie meiden gesellschaftliche Anbindung aus Angst vor negativer Aufmerksamkeit. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der FH Potsdam untersucht im Projekt DISA, ob und wie digitale Innovationen Betroffenen dabei helfen können, angstauslösende Alltagsmomente selbstbestimmt zu bewältigen. Die interdisziplinäre Forschung wird mit Mitteln der Fördermaßnahme „FH-Sozial“ unterstützt.

Der Mensch ist ein soziales Wesen – und doch fällt es vielen Menschen schwer, mit anderen in Kontakt zu treten.
Medizinische Studien legen nah, dass soziale Phobien eine der am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankungen sind.

Eine junge Frau steht inmitten von Menschen und hält sich in Panik die Hände vors Gesicht.
Soziale Ängste können sich so sehr verfestigen, dass Betroffene kaum noch an der Gesellschaft teilhaben. © Quelle: Adobe Stock / terovesalainen

„Nach Depressionen und Alkoholismus ist die soziale Phobie die dritthäufigste Störung im Bereich der psychischen Erkrankungen“ sagt Rahel Maué. Die Psychologin und systemische Familientherapeutin ist Teil einer interdisziplinären Forschungsgruppe an der FH-Potsdam, die am Projekt DISA beteiligt ist.

Seit September 2019 arbeitet die Gruppe an digitalen Innovationen, die betroffene Menschen in ihrer schwierigen Situation unterstützten und ihnen mehr soziale Teilhabe ermöglichen können. Betroffene hätten oft das Gefühl, sie könnten sich peinlich oder unangemessen verhalten und auf Ablehnung stoßen, erklärt Maué. „Im weiteren Verlauf der Erkrankung werden viele Situationen vermieden, und dann beginnt ein Teufelskreis, in dem sich die Ängste manifestieren.“

Interdisziplinärer Ansatz im Bereich der sozialen Innovationen

Im gemeinschaftlich angelegten, interdisziplinären Ansatz von DISA haben sich Forschende aus den Bereichen Psychologie, Mensch-Maschine-Interaktion, Design und Informations- und Medienwissenschaft an der Fachhochschule Potsdam zusammengeschlossen. „Wir verfolgen immer wieder gemeinsame Projekte im Kontext sozialer Innovation, weil es sehr sinnvoll ist, dieses Thema aus verschiedenen Wissensperspektiven zu betrachten“, sagt Professor Frank Heidmann, Leiter des Interaction Design Labs im Fachbereich Design. Er verantwortet das Projekt zusammen mit seiner Kollegin Professorin Judith Ackermann, Leiterin des Digital Participation and Inclusion Labs im Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften.

Einen Zusammenhang zwischen sozialen Ängsten und digitalen Technologien herzustellen sei deshalb so vielversprechend, „weil es dabei um eine Gruppe von Menschen geht, die große Schwierigkeiten hat, die herkömmlichen Versorgungs- und Therapiemöglichkeiten in Anspruch zu nehmen“, sagt seine Kollegin Maué, „zum einen, weil wir ohnehin große Engpässe in der psychosozialen Versorgung in Deutschland haben. Zum anderen, weil auch eine Therapie per se eine soziale Interaktion bedeutet.“

Kommunikation im digitalen Raum kann eine große Hilfe sein

Menschen, die an einer sozialen Phobie leiden, können über digitale Unterstützungsformate in einen Austausch kommen, ohne dabei gleich physisch mit anderen Menschen interagieren zu müssen. Viele Betroffene haben trotz der Ängste ein großes Bedürfnis nach Austausch und sozialer Interaktion, deshalb sind Kommunikationsangebote wie Twitter, Facebook und Instagram für sie interessant.

Über diese sozialen Netzwerke ergibt sich für Betroffene eine Möglichkeit, sich mit anderen betroffenen Menschen auszutauschen und eventuell auch Informationen und Hilfe zu holen. „Gleichzeitig kann die intensive Nutzung digitaler Medien aber auch ein Risiko für ein verstärktes Vermeidungsverhalten bergen, weil man durch den digitalen Austausch möglicherweise zunehmend auf analoge Interaktion verzichtet. Das kann zur Manifestation der Ängste beitragen“, so Maué.

Der Einsatz von Sozialen Medien würde in der Wissenschaft bisher allerdings vor allem einseitig, also im Kontext von exzessivem Konsum und etwaigen Schäden für die psychische Gesundheit untersucht, sagt Leyla Dewitz, die als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für den Bereich Medien- und Informationswissenschaft am Projekt beteiligt ist.

Bei ihrer Mediennutzungsstudie, die sie im DISA-Projekt gemeinsam mit Judith Ackermann durchgeführt hat, zeigen die Ergebnisse aber auch in eine andere Richtung: „Wir haben Inhalte auf Instagram und Twitter untersucht und etwa gesehen, dass Menschen mit sozialen Ängsten, dort lange und sehr persönliche Postings verfassen, die zum Beispiel einen Tag oder gar ein Jahr retrospektiv beschreiben wie in einem Tagebucheintrag“, so Dewitz. Auf Twitter seien den Forschern viele Inhalte aufgefallen, die just in einer Angstsituation gepostet worden waren, „um etwa Stärkung oder Erleichterung daraus zu ziehen, dass man damit nicht allein ist“, so Dewitz.

Mitunter können Betroffene hieraus also eine effektive Unterstützung in Angstsituationen ziehen. In Interviews mit Betroffenen sowie mit Therapeutinnen und Therapeuten hat das Team aber festgestellt, dass moderne Kommunikationsmethoden und digitale Innovationen bislang sehr selten in der Therapie von Erkrankten eingesetzt werden. Hier sei weniger Skepsis und mehr Bereitschaft für den Einsatz neuer Technologien wünschenswert, so Dewitz.

Menschenzentrierte Ansätze: Die Technologie ist nur Mittel zum Zweck

Ziel des DISA-Projekts war es darüber hinaus, eigene innovative Ansätze zu entwickeln. „Dabei ging es uns von Anfang an nicht um technologiezentrierte Ansätze, sondern immer um menschenzentrierte. Wir haben mit den betroffenen Menschen gesprochen, ihre Anforderungen und Bedürfnisse erhoben und entwickeln im Prototyping-Prozess gemeinsam mit ihnen Lösungen“, so Frank Heidmann.

Um Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Expert*innen aufzubauen, war von Beginn an der Bundesverband der Selbsthilfe Soziale Phobie (VSSP) an dem Projekt beteiligt. „Der VSSP hat uns auch dabei unterstützt, eine Gruppe von 15 Teilnehmenden zu finden, die uns im Rahmen eines Workshops Einblicke in den Alltag mit ihren Ängsten gegeben haben“, sagt Rahel Flechtner, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Interaction Design Lab der FH Potsdam.

Unter dem Motto „Helfer gegen die Angst“ wurde schließlich im digitalen Raum miteinander gebastelt, gesprochen und gelernt. Im Prototyping-Part des Workshops entwickelten die Teilnehmenden Ideen für Unterstützungsmöglichkeiten – zum Beispiel ein Armband, an das man „Mutmomente“ anheftet, die einen an bewältigte Herausforderungen erinnern und in schwierigen Situationen Kraft geben.

Diese Idee wurde später in einem von sieben Semesterprojekten aufgegriffen, in denen das DISA-Projetteam gemeinsam mit Studierenden neue technologische Ansätze für den Bereich Soziale Angst entwickelte. Das analoge Mut-Armband wurde dabei mit einer App kombiniert, in der man „Mutmomente” örtlich zuweisen kann. Die App sendet einen Impuls an das Armband, wenn die Person wieder an den Ort eines solchen „Mutmoments“ kommt. „Die Studierenden haben sich damit auf eine Studie bezogen, die besagt, dass schöne Momente von den Betroffenen eher vergessen werden. Man konzentriert sich vermehrt auf die negativen Erlebnisse. Hier sollen App und Armband Abhilfe schaffen“, so Rahel Flechtner.

Virtual Reality macht soziale Ängste nachvollziehbar

Ein Herzensprojekt des Projektteams ist die interaktive Geschichte „Hopohopo”: Diese VR-Anwendung wurde zwar ebenfalls mit Betroffenen, aber nicht für sie konzipiert: „Ein großes Problem von betroffenen Menschen ist die Tatsache, dass sie sich von anderen Menschen unverstanden fühlen“, sagt Leyla Dewitz. Für viele Betroffene sei es wichtig, dass die Menschen in ihrer Umgebung ihre Ängste besser nachvollziehen können.

Zu diesem Zweck wurde mit maßgeblicher Unterstützung der Studierenden Moritz Gnann und Julia Drost eine Virtual-Reality-Anwendung entwickelt, die das Empfinden von betroffenen Personen in Angstsituationen durch visuelle, akustische oder haptische Reize nachvollziehbar machen soll. Man begleitet mittels VR-Brille und Controllern eine fiktive Person mit sozialer Angst bei alltäglichen Situationen und bekommt einen Eindruck davon, wie viel Raum die Angst und die Beschäftigung mit angstauslösenden Situationen im Alltag einnehmen. Betroffene können davon profitieren, wenn nahestehende Personen mithilfe solcher Anwendungen umfassend über soziale Ängste informiert werden, „weil dadurch stigmatisierende und falsche Grundannahmen hinterfragt werden können“, so Psychologin Rahel Maué.

Bis zum Abschluss des Projekts DISA sollen die digitalen Innovationen weiter evaluiert und auf Konferenzen vorgestellt werden. „Es kommt bei uns an der FH nicht so selten vor, dass Studierende sich dann mit einer Anwendung selbstständig machen und ein Start-up oder ein Designstudio ausgründen“, sagt Professor Frank Heidmann. So werden im besten Fall aus den im Projekt gewonnen Ideen ganz konkrete digitale Innovationen, die Menschen mit sozialen Phobien helfen können, ihren Alltag besser zu bewältigen.