Navigation und Service

Eine Brücke über den „Gruselgraben“ : Datum:

Wie müssen Roboter, intelligente Maschinen und virtuelle Welten konzipiert werden, damit Menschen sie akzeptieren und erfolgreich mit ihnen interagieren können? Dieser Frage geht die Berliner Hochschule für Technik (BHT) in ihrem neuen HumanVRLab nach. Das deutschlandweit einzigartige Forschungslabor wurde mit Mitteln aus der Fördermaßnahme FH-Invest aufgebaut und ermöglicht transdisziplinäre Forschung zwischen Robotik, IT, Medizin und Lebenswissenschaften.

Humanoide Roboter und intelligente Maschinen sind uns oft unheimlich: Sie scheinen uns irgendwie ähnlich zu sein, aber nicht ähnlich genug, um sie intuitiv als gleichwertige Interaktionspartner zu akzeptieren. Ihre Bewegungen empfinden wir als seltsam oder sogar bedrohlich, und wenn sie mit uns sprechen, nehmen wir automatisch an, dass sie denken und fühlen wie wir – um dann irritiert zu reagieren, wenn sie uns nicht verstehen.

In einem weitgehend leeren Raum stehen ein zweibeiniger Roboter und ein Mensch nebeneinander und scheinen miteinander zu sprechen.
Zwiegespräch: BHT-Doktorand Manuel Weiß interagiert mit dem humanoiden Roboter Digit. © M. Gasch

Für diese Lücke in der Akzeptanz wurde der Begriff des „Uncanny Valley“ geprägt, zu Deutsch etwa „unheimliches Tal“ oder „Gruselgraben“. Um den Graben zu überbrücken, muss man zunächst die Grenzen der Akzeptanz ausloten und herausfinden, wo das unheimliche Gefühl beginnt und endet. Genau das sei das Ziel des HumanVRLab, sagt Prof. Dr. Kristian Hildebrand von der Berliner Hochschule für Technik (BHT), der das Projekt leitet: „Wir wollen die Frage beantworten, wie Technik aussehen und gestaltet sein muss, damit wir sie akzeptieren, erfolgreich mit ihr interagieren und zugleich als Mensch autonom bleiben können.“

Da Technik vielfältig ist und mindestens ebenso vielfältig eingesetzt werden kann, setzt das HumanVRLab auf maximale Transdisziplinarität, die sich bereits in der Ausstattung zeigt: Es besteht aus einem Robotik-Labor sowie einem Labor für Motion Tracking und Virtual Reality (VR), zu dem auch eine so genannten CAVE für Anwendungen in der VR gehört, und wird ergänzt durch entsprechende Rechner- und Serverkapazitäten für Echtzeitberechnung, Simulation und KI-Anwendungen.  

Das klingt zunächst wie eine große Spielwiese für Leute mit einer Vorliebe für Technik und Computer, doch es ist viel mehr als das: Die Ideen, die im HumanVRLab entstehen, und seine Kooperationen reichen weit in andere Disziplinen hinein. Neben der Interaktion von Mensch und Maschine geht es zum Beispiel auch um die Visualisierung von komplexen Molekülen, um die Simulation biochemischer und pharmazeutischer Prozesse oder um die scheinbar simple Frage, wie der Mensch sich eigentlich genau bewegt.

Deshalb sind auch Hochschulteams aus der Biologie, der Medizin und anderen Lebenswissenschaften am HumanVRLab beteiligt. Außerdem kooperiert die BHT mit der Charité Berlin, deren Forschungsinteressen unter anderem auch im Bereich der medizinischen VR-Anwendungen liegen, sowie mit Industrieunternehmen auf der Suche nach neuen Wegen, um ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei schweren körperlichen Tätigkeiten zu unterstützen.

Motion Tracking

Beim Motion Tracking erfasst ein ausgeklügeltes Kamerasystem jede Bewegung der Probanden, und Algorithmen errechnen daraus Bewegungsabläufe, Freiheitsgrade und Kräfte, die auf Gelenke und Körperteile wirken. Klassische Systeme benötigen so genannte Marker: reflektierende Punkte, die überall am Körper angebracht werden oder an einem entsprechenden Motion-Tracking-Anzug befestigt sind. Das markerbasierte Tracking ist sehr präzise, aber nicht immer praktikabel. Für therapeutische Ansätze bietet sich eher ein markerloses Tracking an, damit Patientinnen und Patienten keinen speziellen Anzug anlegen müssen. Im HumanVRLab werden sowohl markerbasierte als auch markerlose Methoden des Motion Tracking erforscht und optimiert.

Er ist ein Berliner: Der Roboter Digit ist der erste seiner Art in Europa

Das Herzstück des HumanVRLab ist aber wohl der Roboter Digit, zumindest liegt er Hildebrand und seinem Kollegen, dem Robotik-Experten Prof. Dr. Ivo Boblan, ganz besonders am Herzen. Kein Wunder: Zweibeinige humanoide Roboter sind noch nicht sehr verbreitet, und in ganz Europa gibt es bisher nur einen einzigen Digit – nämlich im Compliant Robotics Lab (CoRoLab) an der BHT.

Der Roboter ist erst seit Januar 2022 im Einsatz, denn die Herstellerfirma hatte mit Lieferengpässen zu kämpfen. Daher wurde der Einzug von Digit in sein neues Zuhause um mehrere Monate verzögert. Er ist das letzte fehlende Puzzleteil im Gesamtkonzept des HumanVRLab, und auch bei ihm gilt es, das „Uncanny Valley“ zu überbrücken, denn: Digit hat zwar zwei Beine, zwei Arme und einen Rumpf, aber keinen Kopf und keine Hände. „Deshalb ist eine unserer Forschungsfragen auch, ob es helfen würde, wenn man ihm mittels Augmented Reality einen virtuellen Kopf verleiht“, so Boblan.

Erst einmal geht es im CoRoLab aber um grundlegendere Fragen. Aktuell untersucht das Team, wie Menschen mit Digit interagieren können, zum Beispiel über Zeigegesten wie „Geh und heb die Kiste da drüben auf“. Dabei werden sowohl die Gesten des Menschen als auch die Reaktionen und Laufwege des Roboters analysiert, um herauszufinden, wie gut sich die beiden tatsächlich verstehen und wann es Probleme bei der Interaktion gibt.

Das HumanVRLab ist mehr als die Summe seiner Einzelteile

Das HumanVRLab ist natürlich nicht im „luftleeren Raum“ entstanden, denn die BHT hatte schon vorher Schwerpunkte im Bereich Robotik und Informationstechnologie. Hildebrand und seine Kolleginnen und Kollegen wollten aber ein Konzept erschaffen, das mehr ist als die Summe seiner Einzelteile: „Das Projekt soll die verschiedenen Arbeiten zusammenführen, die es bei uns schon gibt, und dabei neue Synergien freisetzen“, sagt der Projektleiter.

In einem Raum sitzen und stehen etwa zehn Personen um ein digitales Whiteboard und diskutieren miteinander.
Lehrreich: Das HumanVRLab dient auch der Ausbildung von Studierenden verschiedener Fachrichtungen. © Kristian Hildebrand

Deshalb hat das Team mit dem HumanVRLab an laufende Projekte angedockt. So gibt es an der BHT zum Beispiel bereits ein mobiles Virtual-Reality-Labor in einem LKW, mit dem die Technik direkt zu den Menschen kommt – vor allem in ländlichen Regionen. Hier wird erprobt, ob virtuelle Realität bei der Therapie von Krankheiten helfen kann, indem sie Patientinnen und Patienten etwa bei der richtigen Ausführung von therapeutischen Übungen unterstützt. Ein anderes Projekt der BHT hat sich zum Ziel gesetzt, ein Exoskelett zu entwickeln, das Menschen in körperlich anstrengenden Berufen bei schweren Tätigkeiten unterstützt und ihnen zum Beispiel das gesunde und rückenschonende Heben von Lasten erleichtert.

Große Gemeinschaftsprojekte erfordern viel Austausch

Im HumanVRLab haben alle diese Ideen ein gemeinsames Zuhause gefunden. „Das Gesamtpaket ist ziemlich einzigartig in Deutschland“, sagt Boblan. Ein solches Paket zu schnüren ist allerdings eine große Herausforderung für Universitäten und Hochschulen, an denen oft jeder Lehrstuhl und jedes Institut eine eigene Agenda verfolgt. „Für transdisziplinäre Vorhaben in dieser Größenordnung braucht man ein gewisses Maß an offenem Austausch zwischen den Forschergruppen“, meint Hildebrand.

An der BHT gab es diesen Austausch bereits in Form von regelmäßigen Treffen zwischen den Forschergruppen, bei denen dann auch die Idee für das Projekt geboren wurde. Das HumanVRLab sei durch und durch ein Gemeinschaftswerk, da sind sich Boblan und Hildebrand einig. Nur so könne eine derart große Kooperation auch wirklich funktionieren.

Das FH-Invest-Projekt, mit dem der Aufbau des Labors finanziert wurde, läuft im März 2022 aus. Das bedeutet aber nicht, dass nun alles wieder abgebaut wird, im Gegenteil: Eigentlich geht die Arbeit jetzt erst richtig los. Das HumanVRLab soll an der BHT als Institut verstetigt werden, und es soll vor allem für verschiedene Akteursgruppen geöffnet werden: Für Studierende wird es als Lehrlabor dienen, außerdem soll ein OpenVRLab eingerichtet werden, in dem die interessierte Öffentlichkeit die Techniken und Methoden kennenlernen kann. Und Unternehmen können die Ausstattung und Expertise der Hochschule im BusinessVRLab nutzen, um konkrete Produktideen umzusetzen. „Das wird Berlin und die Region weit nach vorne bringen“, glaubt Hildebrand. Wenn er recht behält, dann wurde an der BHT weit mehr geschaffen als nur eine Brücke über den „Gruselgraben“.