Navigation und Service

Starthilfe für ein selbstbestimmtes Leben : Datum:

Auffällig viele junge Menschen, die in Jugendhilfe-Einrichtungen aufgewachsen sind, kämpfen mit Wohnungslosigkeit, Drogenproblemen oder Gewalterfahrungen. Im Projekt HtR_CaL untersucht die Hochschule Koblenz die Hintergründe und entwickelt ein Hilfskonzept, das die jungen Menschen auffangen und ihnen den Weg in ein selbstbestimmtes, gesundes Leben ebnen soll.

Vor einigen Jahren standen Robert Frietsch und sein Team vor einem Rätsel: Warum, so fragten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich damals, landen eigentlich immer mehr junge Menschen aus der Jugendhilfe direkt in der Wohnungslosenhilfe? Wie kommt es, dass so viele Jugendliche, die in Pflegefamilien oder im Heim aufgewachsen sind, trotz aller Hilfsangebote nicht so recht im Erwachsenenleben Fuß fassen können?

Ein Jugendlicher sitzt auf dem Boden vor einer Mauer mit der Aufschrift „Her mit dem schönen Leben“
Startschwierigkeiten: Wer in der Kindheit keine sicheren Bindungen zu Bezugspersonen aufbauen konnte, hat als Erwachsener oft Probleme, ein selbstbestimmtes und zufriedenes Leben zu führen. © Thomas Zilch 2020

Die Antwort, die sie auf diese Frage gefunden haben, klingt ernüchternd: „Statistiken belegen, dass die Hälfte aller Hilfsmaßnahmen der Jugendhilfe nicht greifen“, sagt Frietsch. „Die Einrichtungen und Jugendämter tun zwar viel für die Jugendlichen, aber womöglich tun sie einfach nicht das, was aus psychologischer Sicht erforderlich wäre.“ An diesem Punkt setzt das Projekt HtR_CaL an, das Frietsch als Professor für Sozialwissenschaften an der Hochschule Koblenz leitet: Ein standardisierter „Methodenkoffer“ soll Jugendhilfeeinrichtungen und anderen Fachdiensten Werkzeuge an die Hand geben, um die spezifischen Probleme und Bedürfnisse ihrer Klienten besser zu erfassen und mit ihnen zu bearbeiten.

Als studierter Psychologe mit Schwerpunkt Jugendhilfe und ehemaliger Drogenbeauftragter des Landes Rheinland-Pfalz hat Frietsch in seinem Berufsleben viele Einblicke in die prekären Lebenslagen gesammelt, in die Heranwachsende geraten können. Junge Menschen, die aus der Jugendhilfe in ein eigenständiges Leben entlassen werden – im Fachjargon nennt man sie „Care Leaver“ – sind statistisch besonders gefährdet: Überdurchschnittlich oft finden sie keine Wohnung und keinen festen Job, nehmen Drogen und geraten in eine gefährliche Schleife aus Gewalt und Kriminalität.

Um solche Biografien zu verhindern, muss man aus Sicht von Robert Frietsch nicht bei den Symptomen ansetzen, sondern bei den Gründen für ihre Entstehung. Und diese Gründe, so erklärt er, seien eigentlich bei allen Betroffenen gleich: die Unfähigkeit, sichere Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen, und in der Folge eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung. Frietsch hat aber beobachtet, dass viele Jugendhilfeeinrichtungen dieser Tatsache nicht gerecht werden können. An der Bindungsproblematik werde oft nicht adäquat gearbeitet, so der Experte.

Bindungsmuster aus der Kindheit können durchbrochen werden

Frietsch und seine Projektmitarbeiter Corinna Leißling und Dirk Holbach und haben sich dem Thema zunächst einmal über Analysen und Befragungen genähert. Ihre Datenerhebung hat ergeben, dass in der Gruppe von Care Leavern mit großen Problemen – also jenen, die vielleicht schon aus mehreren Einrichtungen oder Pflegefamilien geflogen sind und akut Gefahr laufen, auf der Straße zu landen – nur etwa zehn Prozent ein sicheres Bindungsmuster aufwiesen. Der Großteil junger Menschen in dieser Gruppe zeigte eher ängstlich-vermeidende oder gleichgültig-vermeidende Bindungen, einhergehend mit geringem Selbstwertgefühl oder der Vermeidung von Nähe zu anderen Menschen. 

Zum Glück sind Bindungsmuster nicht für immer in Stein gemeißelt: Mit den richtigen Maßnahmen lassen sie sich durchaus durchbrechen, allerdings müssen die Probleme zunächst korrekt identifiziert werden. Der „Methodenkoffer“, der im Rahmen des Projekts zusammengestellt wird, enthält deshalb sowohl Erhebungsmethoden als auch entsprechende Trainingsmodule. Eines der wichtigsten Instrumente ist der so genannte SOC-Fragebogen, mit dem der „sense of coherence“ abgefragt wird, also das Kohärenzgefühl der Jugendlichen: Erscheint ihnen ihre Lebenswelt als erklärbar, oder empfinden sie sie als chaotisch, zufällig und unverständlich? Haben sie das Gefühl, das eigene Leben gestalten und kontrollieren zu können? Und empfinden sie ihr Leben und ihre Lebensumwelt als sinnvoll?

Das Leben verstehen, bewältigen und als sinnvoll begreifen

Diese drei Komponenten – kurz zusammengefasst als Verstehbarkeit, Bewältigbarkeit und Sinnhaftigkeit – zeigen an, wie dringend ein Mensch professionelle Unterstützung benötigt. Ein stabiles Kohärenzgefühl hilft über schwere Zeiten und Krisen hinweg, während ein niedriger SOC-Wert als Warnzeichen für Depressionen oder gar eine Suizidproblematik gilt. Dass die Fachkräfte in den Einrichtungen diese Warnzeichen erkennen, ist das erste Ziel von HtR_CaL. Das Projektteam hat den SOC-Fragebogen mit fast 200 Jugendlichen durchgearbeitet und dabei auch die ersten Einrichtungen im Umgang mit dem Instrument geschult.

Die Rückmeldungen waren bemerkenswert, berichtet Frietsch: Die befragten Jugendlichen hätten fast durchweg positiv reagiert und aktiv mitgearbeitet, und die Fachkräfte hätten zurückgemeldet, dass das HtR_CaL-Team in den zweistündigen Interviews teils mehr über die Jugendlichen erfahren habe als die Fachkräfte selbst in Monaten. „Mit SOC fragt man die Erfahrungen und Einschätzungen einer Person im zwischenmenschlichen Erleben ab, anstatt sie einfach nur auszufragen“, erläutert Frietsch. „Das hat dazu geführt, dass die Jugendlichen sich ernstgenommen fühlten und ihre Erfahrungen selbst reflektieren konnten.“

Doch die Einschätzung über den SOC-Wert ist natürlich nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem selbstbestimmten und zufriedenen Leben: Im nächsten Schritt sollen spezielle Trainings helfen, die Situation zu bessern. Ein weiteres Instrument im „Methodenkoffer“ ist zum Beispiel das HEDE-Training (HEDE steht für „Health-Ease und Dis-Ease“), das speziell auf die Bedürfnisse der Care Leaver abgestimmt wurde und mit dem sie lernen sollen, wie sie schwierige Zeiten ohne ernsthafte psychische oder physische Beeinträchtigungen überstehen und ihre eigenen Potenziale besser nutzen und erweitern können.

Trainings als essenzieller Bestandteil des Konzepts

Anders als beim SOC-Fragebogen hält sich die Begeisterung der Fachkräfte für dieses Instrument allerdings in Grenzen. Frietsch vermutet, dass der zeitliche und personelle Aufwand abschreckend wirkt in einer Branche, die von Personal- und Geldmangel geprägt ist: Für das entsprechende HEDE-Training werden mindestens zwei Fachkräfte benötigt, und zwar für zehn halbtägige Trainingseinheiten. Die intensive Auswertung ist da noch nicht einberechnet. Das ist eine ganz andere Hausnummer als die kurzen Interviews, die für die SOC-Erhebung benötigt werden. Und dennoch: „Diese Trainings, das gemeinsame Erleben sind ganz wesentliche Bestandteile der Arbeit mit den Jugendlichen“, findet Frietsch. „Ohne sie geht es nicht.“

Er wird deshalb weiter geduldig Überzeugungsarbeit leisten und den „Methodenkoffer“ ausbauen. Eine entsprechende Software soll es den Einrichtungen später ermöglichen, die Ergebnisse und Erfolge zu dokumentieren; für den SOC-Fragebogen steht diese digitale Auswertung bereits zur Verfügung. Die Entwicklung der Trainings musste allerdings während der Coronakrise weitgehend pausieren. „Virtuelle Schulungen sind zwar möglich, aber funktionieren einfach nicht so gut wie Präsenzschulungen“, erläutert Frietsch. Erst jetzt können die Arbeiten wieder anlaufen, so dass HtR_CaL mit einiger Verzögerung nun wieder loslegen kann: In anderthalb Jahren soll der „Methodenkoffer“ gut gefüllt an die beteiligten Partner-Einrichtungen übergeben werden.

Robert Frietsch und sein Team hoffen, dass das Unterstützungskonzept dann schnell die Runde macht in der stationären Jugendhilfe und den Care Leavern einen besseren Start in ihr Erwachsenenleben ermöglicht: „Wenn wir auch nur ein paar junge Menschen aus unserer Zielgruppe davor bewahren können, in die Wohnungslosigkeit oder Kriminalität abzurutschen, dann war HtR_CaL ein Erfolg.“