Aus eigener Kraft gegen die Sucht : Datum:
Opiatabhängige Menschen stehen aus verschiedenen Gründen oft ganz am Rand der Gesellschaft und werden auch so behandelt – selbst von Ärzten und Behandlern im Rahmen der psychosozialen Begleitung. Im Projekt Checkpoint-S will ein Forscherteam an der Hochschule Merseburg ihnen eine Smartphone-App an die Hand geben, die ihnen hilft, ihre Erkrankung selbst besser zu verstehen und in der Behandlung auf Augenhöhe mit ihrem Arzt zu sprechen.
Opiate wie Heroin können schnell körperlich abhängig machen. Da die Substanzen teuer und oft nur auf illegalen Wegen erhältlich sind, verursacht eine Opiatabhängigkeit viele Probleme bei der Bewältigung des Alltags und kann soziale Isolation und sogar Kriminalität nach sich ziehen. Für viele ist der einzige Weg aus dieser Situation eine Substitutionsbehandlung, bei der die eigentliche Droge unter ärztlich kontrollierten Bedingungen durch Ersatzstoffe wie Methadon oder Buprenorphin ersetzt wird.
Allerdings kämen in Deutschland auf etwa 80.000 Substitutionspatienten nur ca. 3.000 Substitutionsärzte, erklärt Prof. Dr. Gundula Barsch. Die Sozialwissenschaftlerin von der Hochschule Merseburg leitet das Projekt Checkpoint-S und entwickelt eine App, die Menschen in der Substitutionsbehandlung sozusagen „Hilfe zur Selbsthilfe“.
bietet. Die App soll nicht nur die Versorgungslücke verkleinern, sondern auch das typische Machtgefälle zwischen Arzt und Patient: „Wir alle kennen wohl das Gefühl, mit dem Arzt nicht immer auf Augenhöhe sprechen zu können“, sagt sie. „Für Opiatabhängige ist dieses Gefälle noch viel stärker, denn sie sind eine extrem stigmatisierte Gruppe, die auch unter Ärzten oft als laut, dreckig, kriminell und schwierig zu behandeln gilt.“
Digitale Tagebücher liefern Einblicke in die eigene Erkrankung
Nun ist es für Abhängige ja tatsächlich oft schwierig, ihr Leben unter Kontrolle zu behalten, selbst in der Substitutionsbehandlung: Probleme oder Stress können das fragile Gleichgewicht schnell ins Wanken bringen. Genau an dieser Stelle setzt Checkpoint-S an. Die App bietet den Nutzern verschiedene Tagebücher, um etwa die Einnahme des Substitutionsmittels und den Beikonsum zu dokumentieren oder Konsumdruck und wechselnde Stimmungen aufzuzeichnen. „Wenn man solche Aufzeichnungen übereinanderlegt, bekommt man interessante Einblicke in die eigene Erkrankung“, erklärt Gundula Barsch. So erfahren Substitutionspatienten zum Beispiel, durch welche äußeren Einflüsse bei ihnen Konsumdruck entsteht oder ob womöglich die Dosis ihres Substitutionsmittels zu niedrig ist. Dank der grafischen Auswertungen haben sie auch ihrem Arzt gegenüber eine bessere Argumentationsbasis. Ziel sei, so Barsch, eine Behandlung im Sinne des „Shared Decision Making“, bei der Arzt und Patient gemeinsam den besten Therapieweg erarbeiten. Von diesem Ziel seien gerade Substitutionspatienten oft noch „Lichtjahre entfernt“.
Gundula Barsch betont deshalb auch, dass die App für die Patienten gemacht ist – nicht für die Behandler. „Natürlich beziehen wir Mediziner und andere Behandler in die Entwicklung ein und befragen sie zu ihrer Meinung“, sagt sie. „Aber wenn die Wünsche der Ärzteschaft und die der Patienten deutlich auseinandergehen, dann entscheiden wir uns für die Wünsche der Patienten.“ Unter anderem werden alle Daten lokal auf dem eigenen Gerät gespeichert. Die Nutzer können ihre Aufzeichnungen zwar mit ihrem Arzt teilen, müssen das aber nicht tun.
Der konzeptionelle Ansatz von Checkpoint-S verschaffe den Nutzern einen Grad an Autonomie und Selbstwirksamkeit, den sie sonst nur selten erlebten, so Barsch. Sie verweist darauf, dass Substitutionspatienten oft durch äußere Umstände in Lebenssituationen gepresst würden, die sie schon per se auffällig machen. Etwa in dünn besiedelten Gebieten: Hier müssen sie oft weite Strecken mit dem ÖPNV zurücklegen, um die nächstgelegene Substitutionspraxis zu erreichen. Die Behandlungszeiten für Substitutionspatienten sind meist früh morgens angesetzt, um sie von anderen Patienten zu trennen. Doch was tun, wenn der nächste Bus nach Hause erst Stunden später fährt? Dann wartet man eben solange in der Innenstadt oder in der Nähe der Praxis – und schon ist das Vorurteil vom herumlungernden Junkie wieder bestätigt.
Frühstart der App wegen Corona
Die Corona-Krise hat die Situation für Substitutionspatienten – wie für so viele Menschen am Rand der Gesellschaft – verschärft und auch das Projektteam von Checkpoint-S zu besonderen Maßnahmen gezwungen. Mit Beginn der Krise beschleunigte das Team seine Arbeit an verschiedenen Features, und die neuen Funktionen wurden allen Interessierten zur Verfügung gestellt, um die angespannte Versorgungslage für die Patienten ein wenig abzumildern.
Denn mit dem Lockdown wurden plötzlich Praxen und Einrichtungen geschlossen, und statt der strikt kontrollierten täglichen Ausgabe von Substitutionsmitteln beim Arzt wurde das Take-Home-Prinzip ausgebaut, bei dem den Patienten eine größere Menge ihres Mittels ausgehändigt werden durfte. „Die meisten Patienten waren in dieser Situation völlig auf sich gestellt“, meint Barsch. „Wir wollten ihnen mit der frühen Version der App wenigstens eine kleine Orientierungshilfe an die Hand geben.“
Dass das offenbar ganz gut geklappt hat, zeigen die aktuellen Nutzerzahlen: Allein über die jeweiligen App-Stores hatten sich bis Ende August bereits 500 Personen die App heruntergeladen, zusätzlich gibt es einen Download-Link auf der Projektwebsite. Ein Feedback-System auf derselben Webseite sorgt dafür, dass alle Nutzer in die Weiterentwicklung eingebunden werden – nicht nur diejenigen, die zum Start des Projekts als Mitwirkende angesprochen wurden.
Derzeit geht es darum, die Daten aus den Tagebüchern mit einem Coaching-System zu verbinden. Push-Benachrichtigungen sollen die Nutzer dazu animieren, regelmäßige Einträge vorzunehmen und sich mit ihren Statistiken auseinanderzusetzen. Auf ausdrücklichen Wunsch der Patienten wurde gerade ein Modul fertiggestellt, mit dem sie eigene Ziele definieren können, etwa in den Bereichen Schlaf, Sport oder Ernährung.
Gesundheits-Apps gibt es für viele Zielgruppen, aber nicht für Suchtkranke
Gesundheits-Apps sind derzeit im Kommen, doch Checkpoint-S ist die einzige, die sich gezielt an Opiatabhängige wendet. An der Hochschule Merseburg sind insgesamt drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in das Projekt eingebunden; die Programmierung übernimmt die Curamatik GmbH, ein Spin-off der TU Berlin. Die Probanden, die die neuen Funktionen der App testen, rekrutiert das Projektteam über verschiedene Drogenberatungsstellen und Substitutionspraxen, unter anderem in Berlin und Halle.
Obwohl Checkpoint-S in der Krise überraschend gut gestartet ist, bereiten einige Fragen der Projektleiterin Gundula Barsch im Moment noch Kopfzerbrechen: Wie kann man zum Beispiel die dringend nötigen Usability-Tests möglichst kontaktarm durchführen und trotzdem mit den Nutzern dazu ins Gespräch zu kommen? Und wie kann man in Corona-Zeiten am besten Werbung für ein solches Werkzeug machen?
Geplante Aktionen wie Workshops und Praxisbesuche mussten aufgrund der Corona-Maßnahmen dieses Jahr ausfallen. Wie also erreicht man weitere Patienten, und vor allem: Wie erreicht man deren Ärzte? Gerade die seien nämlich oft zurückhaltend gegenüber dieser neuen technischen Möglichkeit, berichtet die Wissenschaftlerin: „Viele Ärzte haben noch nie Apps in ihre Behandlung eingebunden und sind deshalb skeptisch, welcher Nutzen sich für die Behandlung daraus ergeben kann.“ Die Möglichkeiten, die sich ihnen durch die Auswertung von Alltagsdaten ihrer Patienten eröffnen, haben allerdings bisher noch alle Zweifler überzeugt.