Zwischen Frust und Bereicherung : Datum:
Wenn Menschen alt oder krank werden, stehen ihre Angehörigen vor der Aufgabe, die Pflege zu organisieren oder zu übernehmen. Familienmitglieder, die in der Alten- und Krankenpflege arbeiten, springen in solchen Fällen besonders häufig ein. In einem gemeinsamen Forschungsprojekt haben die Evangelischen Hochschule (ehs) und die Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) in Dresden das Phänomen der „Double Duty Carer“ untersucht und festgestellt, dass diese oft vor besonderen Herausforderungen stehen.
Professor Thomas Fischer ist ein Freund klarer Worte. „Die Pflege von Angehörigen ist ein vorhersehbares Ereignis in unser aller Leben“, sagt der Pflegewissenschaftler von der ehs Dresden. Angesichts der Altersstruktur in westlichen Gesellschaften müsse sich eigentlich jeder darauf einstellen, irgendwann einmal pflegebedürftige Familienmitglieder zu haben. Einige Berufsgruppen übernehmen allerdings öfter Pflegeaufgaben als andere - zum Beispiel Alten- und Krankenpflegekräfte. Wenn diese neben ihrem Job auch noch Familienmitglieder pflegen, dann gehören sie zu den Double Duty Carern: Menschen mit doppelter Pflegeverantwortung.
Das Forscherteam um Thomas Fischer und seine Kollegin Anne-Katrin Haubold, Professorin für Human Resource Management an der HTW Dresden, hat im Projekt DDCare-D fast 500 Menschen befragt, die in der stationären und ambulanten Pflege arbeiten. Von ihnen gaben 20 Prozent an, dass sie mindestens ein Familienmitglied pflegen; viele übernehmen sogar Verantwortung für zwei oder mehr Angehörige. Durchschnittlich kümmern sich die Double Duty Carer vier Jahre lang und etwa 17 Stunden pro Woche um private Pflegeaufgaben. Und wie auch in der Gesamtbevölkerung ist der Anteil der Frauen unter ihnen sehr hoch - laut DDCare-D liegt er bei 93 Prozent.
„Mach du das, du bist doch Altenpflegerin“
Die Befragungen zeigen, dass Zeitaufwand und Aufgaben der Double Duty Carer sich vordergründig nicht sehr von denen anderer pflegender Angehöriger unterscheiden: Sie reichen von Gesellschaft leisten über Einkaufen und Kochen bis hin zur Vollzeitpflege. Einige Unterschiede gebe es aber doch, sagt Anne-Katrin Haubold: „An professionelle Pflegekräfte werden auch innerhalb der Familie hohe Erwartungen gerichtet, die Pflege und Pflegeorganisation für Angehörige zu übernehmen.“ Von ihnen werde automatisch erwartet, dass sie die Situation meistern können, da sie ja beruflich dazu ausgebildet seien, so die Forscherin. „Und dann gibt es natürlich auch noch eine hohe intrinsische Motivation, die Aufgaben zu übernehmen: Als ausgebildete Pflegekraft traut man sich die Angehörigenpflege eher zu und will sie auch übernehmen.“
Zugleich bringen Pflegeberufe typische Besonderheiten mit sich, die es den Double Duty Carern schwermachen: zum Beispiel Schichtdienste, gepaart mit Personalmangel und den dadurch nötigen flexiblen Einsatzzeiten. Anders als viele Büroangestellte können Pflegefachkräfte weder auf gleitende Arbeitszeiten noch auf Regelungen zum mobilen Arbeiten zurückgreifen, die ihnen die Organisation der privaten Pflege erleichtern würden. Andererseits sind Pflegekräfte gefragt wie nie, überall im Land sind Stellen unbesetzt, und gute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind rar.
Über doppelte Pflege spricht man nicht
Im Projekt wurde daher auch die Perspektive der Arbeitgeber einbezogen: Wie kann die Arbeitsorganisation angepasst werden, damit Double Duty Carer nicht aus Frust und Überforderung aus dem Job ausscheiden? Gute Angebote zur Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sind auf dem umkämpften Arbeitsmarkt ein entscheidender Vorteil.
An dieser Stelle berichten Haubold und Fischer von einer weiteren bemerkenswerten Entdeckung: Viele Pflegefachkräfte erzählen auf der Arbeit nichts von ihrer privaten Pflegeaufgabe. Nur bei 70 Prozent der Befragten wussten die Kollegen und Kolleginnen Bescheid, Vorgesetzte waren in 67 Prozent der Fälle über die Situation informiert. Über die Gründe können beide nur spekulieren: „So eine private Pflegeaufgabe wächst häufig schleichend, und es gibt nie einen konkreten Anlass, davon zu erzählen“, meint Haubold. Zusätzlich, ergänzt Fischer, gebe es sicher auch Angst vor beruflichen Nachteilen und Problemen im Team: „Weil die Personaldecke im Pflegebereich so dünn ist, müssen Ausfälle von ohnehin oft überlasteten Kolleginnen und Kollegen aufgefangen werden. Da will man nicht als weniger leistungsfähig erscheinen und schon gar keine besonderen Ansprüche stellen.“
Eine wichtige Erkenntnis des Forschungsprojekts war daher, dass Betroffene und Arbeitgeber mehr über die Vor- und Nachteile von doppelter Pflege sprechen müssten. Schließlich bringt die Konstellation auch einen Kompetenzgewinn, von dem beide Seiten etwas haben: Die Pflegenden greifen privat auf ihre berufliche Erfahrung zurück, und die Arbeitgeber profitieren von dem erweiterten Blick der privat Pflegenden auf professionelle Pflegeabläufe. Sie könnten Versorgungslücken im Betrieb oft viel besser erkennen als andere Angestellte, da sie die Abläufe aus der einer anderen Perspektive sähen, erläutert Fischer. Double Duty Carer sind also keine Problemfälle, sondern eine Bereicherung - wenn sie ihrer Situation entsprechend unterstützt werden.
Personalplanung neu denken
Um den Dialog zwischen Arbeitgebern und ihren Double Duty Carern zu unterstützen, hat das Projektteam Informationsmaterial und Gesprächsleitfäden für Personalverantwortliche entworfen. Die Unterlagen stellen die Forscherinnen und Forscher kostenlos auf der Projektwebsite zur Verfügung - und haben dafür bereits viel Zuspruch von Pflegebetrieben geerntet. Auch bei der konkreten Umsetzung der Vorschläge in der Personalpolitik scheint sich in einigen Betrieben etwas zu bewegen. Dafür müssten zwar gewohnte Schemata aufgebrochen werden - aber die Notwendigkeit, die Fachkräfte zu halten, sei so groß, dass die Einrichtungen dazu durchaus bereit seien, erläutert Haubold.
Auch auf Seiten der Betroffenen hat DDCare-D Hilfsangebote geschaffen, zum Beispiel Workshops und eine Peerbegleitung für Double Duty Carer durch Kolleginnen oder Kollegen, die schon einmal in der gleichen Situation waren. Hier allerdings zeigt sich, wie problematisch die Pflegesituation in Deutschland ist: Die Angebote wurden kaum angenommen. Nicht, weil sie nicht nützlich wären, im Gegenteil - die Rückmeldungen waren sogar extrem positiv. Doch die Adressaten haben zwischen ihrem anspruchsvollen Job und der privaten Pflege ihrer Angehörigen schlicht keine Zeit für die dringend benötigten Unterstützungsangebote.
Thomas Fischer ist dennoch hoffnungsvoll, dass auch die Workshops und das Peer-Konzept früher oder später noch zum Einsatz kommen. „Die Konzepte sind einsatzbereit, und wir stellen sie der Öffentlichkeit über eine Creative-Commons-Lizenz zur Verfügung“, sagt er. „Oft entwickeln solche Dinge nach einiger Zeit doch noch ein Eigenleben.“ Sollte sich also ein Träger oder eine Einrichtung eingehend mit dem Thema befassen wollen: Das Team von DDCare-D ist vorbereitet.