Wenn das Leben im Chaos versinkt : Datum:
Wenn Menschen zwischen Papier-, Kleider- oder Verpackungsbergen leben, spricht man laienhaft vom Messie-Syndrom, fachlich jedoch vom „desorganisierten Wohnen“. Die HAW Hamburg hat sich im SILQUA-Projekt AdeLe in den vergangenen drei Jahren intensiv mit dem Phänomen und seinen Ursachen befasst und dabei insbesondere ältere Menschen in den Blick genommen. Bald wird das Projekt abgeschlossen, am 21. November 2019 lud das AdeLe-Team zur Abschlusstagung nach Hamburg ein.
Versucht man, sich dem desorganisierten Wohnen über Zahlen und Fakten zu nähern, stößt man schnell an Grenzen: Das Thema ist derartig tabuisiert, dass es in Deutschland keine einzige Statistik dazu gibt. Die Schätzungen von öffentlichen Einrichtungen und sozialen Diensten gehen weit auseinander, so dass nur eines klar ist: Die Dunkelziffer ist groß. Niemand gibt schließlich gerne zu, dass die eigene Wohnung völlig zugestellt ist.
Entgegen der landläufigen Meinung sieht man Menschen ihre Wohnsituation auch nicht an: „Es könnte Ihre Kollegin aus dem Nachbarbüro sein oder der gut gekleidete Herr, der in der Bahn neben Ihnen sitzt“, sagt AdeLe-Projektleiter Andreas Langer. „Desorganisiertes Wohnen kann in jeder Bevölkerungsschicht auftreten, bei Armen und Reichen, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Singles, Paaren oder Familien.“ Ein Erkennungsmuster gibt es nicht, im Gegenteil: Viele Menschen, deren Wohnsituation außer Kontrolle geraten ist, haben beeindruckende Strategien entwickelt, um den Schein aufrechtzuerhalten. Das sei, findet Andreas Langer, schon fast eine Art „Überlebenskunst“.
Eine Kunst allerdings, die laut nach Hilfe schreit, denn desorgansierte Wohnungen sind immer nur Symptome für tieferliegende Probleme. Deshalb sollten an dieser Stelle Hilfesysteme greifen, doch die gibt es nicht immer: „Je nach Region haben wir in der Begleitung von desorganisiert lebenden Menschen ein massives Problem bei der Zuständigkeits- und Verantwortungsübernahme“, so Langer.
In Hamburg - dem Ort, auf den AdeLe sich konzentriert - gibt es zum Beispiel kein übergreifendes Hilfskonzept, und Betroffene finden oft keine Anlaufstelle. Wer schon einmal mit dem Hinweis „Wir sind nicht zuständig“ von einer Stelle zur anderen geschickt wurde, der weiß, wie frustrierend das sein kann. Menschen, die bereits mit ihrer normalen Lebensführung überfordert sind, haben in so einer Lage überhaupt keine Chance. Langer formuliert es drastisch: „Ein solches Hilfesystem verschärft das Problem nicht nur, sondern ist eigentlich selbst das Problem.“
In drei Phasen aus der sozialen Isolation
Deshalb haben sich die Forscherinnen und Forscher im Projekt AdeLe nicht auf die reine Bestandsaufnahme beschränkt, sondern ein Interventionskonzept entwickelt, das Menschen in desorganisierten Wohnsituationen helfen kann. In drei Schritten begleiten sie sie aus der sozialen Isolation, die ihr Wohnumfeld verursacht.
Zunächst gilt es, das Vertrauen der Personen zu gewinnen und die drängendsten Probleme zu lösen - etwa drohende Räumungsklagen aufzuschieben oder schwelende Konflikte zu beruhigen. In der zweiten Phase steht die konkrete Unterstützung und Begleitung im Mittelpunkt. Dazu zählt auch, herauszufinden, warum die Menschen in einer derart desolaten Wohnsituation gelandet sind; danach wird behutsam in der Wohnung und im Leben der Betroffenen aufgeräumt. In Phase drei reicht dann in der Regel eine lose Begleitung für etwa ein weiteres Jahr, um die Lage zu stabilisieren.
Vierzehn Probandinnen und Probanden haben das Programm bereits durchlaufen und leben laut Projektleiter Langer nun wieder in annehmbaren Wohnverhältnissen. Sechzehn weitere Personen werden aktuell noch begleitet, bevor das Projekt zu Ende geht.
Gezielte Hilfe zahlt sich aus - auch finanziell
Dabei würde eine Fortsetzung des Programms sich auch finanziell lohnen, das haben die Forscherinnen und Forscher ausgerechnet: Jeder Euro, der in gezielte Hilfsmaßnahmen für desorganisiert lebende Menschen investiert wird, zahlt sich doppelt aus. In einer „Social Return on Investment“-Studie (SRoI) konnten sie nachweisen, dass solche Maßnahmen auch der Allgemeinheit und den Sozialsystemen zugutekommen - denn desorganisierte Wohnsituationen erzeugen oft Konflikte mit Nachbarn oder Vermietern, die dann in Räumungsklagen und Obdachlosigkeit münden.
Bei älteren Menschen kommen gesundheitliche Probleme hinzu, die durch die desorganisierte Lebenslage verstärkt oder verursacht werden. All dies belastet die Sozialsysteme weitaus mehr als ein adäquates Hilfesystem, jedoch sind an den bestehenden Hilfsstrukturen oft so viele Stellen beteiligt, dass es laut Andreas Langer schwierig ist, hier erfolgreich mit einem Gesamt-SRoI zu argumentieren.
Am 21. November 2019 lud das AdeLe-Projektteam die beteiligten Stellen in und um Hamburg zu einer Abschlusstagung mit dem Titel „Desorganisiertes Wohnen in Hamburg – Bedarfe, Konzepte, Versorgungslücken und Soziale Arbeit“ ein, um die Erfahrungen aus den letzten drei Jahren zu teilen. Außerdem will das Team ein Buch schreiben, das das Interventionskonzept erläutert und allgemeine Handreichungen für soziale Dienste enthält. Ergänzt wird das Buch durch zwei Kurzfilme, die das Konzept aus Sicht der Betroffenen und aus Sicht der Helfer erklären. Das Projektteam hofft, damit die lokale Politik weiter von dem Konzept zu überzeugen und es auch in andere Regionen zu tragen, in denen ein Hilfskonzept bisher fehlt.
Eines konnten Langer und sein Team bereits erreichen: Für ein weiteres Jahr werden sie gemeinsam mit Hamburger Partnern ein Anschlussprojekt durchführen, das sich diesmal auf desorganisierte Wohnsituationen von Familien konzentrieren soll.